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Gerd B. Achenbach: Nietzsches Selbstdarstellung "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit"

Freitag-Vortrag am 27. April 2007 CD Nr. 184
Im Rahmen einer Veranstaltung zum späten Nietzsche am darauffolgenden Wochenende habe ich auch in Weimar, im Haus des Nietzsche-Archivs ("Haus Silberblick"), einen Vortrag desselben Themas gehalten, den ich hier, als Freitag-Vortrag, schon einmal versucht habe.

Mir war darum zu tun, seiner Selbstkennzeichnung ("Ich bin Dynamit") entschieden zuzustimmen: Nietzsche war in der Tat eher Sprengmittel als Baumeister, er hat eingerissen, nicht aufgebaut.

Wobei die besondere Pointe dieses Vortrags der Versuch ist, anhand der Nr. 208 aus "Jenseits von Gut und Böse" zu zeigen, daß Nietzsche mit destruktiver Kraft begünstigte, was er eigentlich bekämpfte, die Unentschiedenheit einer skeptischen - heute würde man sagen: einer "postmodernen" - Haltung, die Entscheidungen aus dem Weg geht.

(„Wenn heute ein Philosoph zu verstehen gibt, er sei kein Skeptiker, ... so hört alle Welt das ungern; man sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so vieles fragen, ... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge gibt, heißt er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, bei seiner Ablehnung der Skepsis, von ferne her irgendein böses bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloß Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken! Nein tut. Gegen diese Art von »gutem Willen« – einem Willen zur wirklichen tätlichen Verneinung des Lebens – gibt es anerkanntermaßen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel als Skepsis, den sanften holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den Ärzten der Zeit gegen den »Geist« und sein Rumoren unter dem Boden verordnet. »Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen?« sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von Sicherheits-Polizei: »dies unterirdische Nein ist fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!« Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biß zu spüren. Ja! und Nein! – das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht: »was weiß ich?« Oder mit Sokrates: »ich weiß, daß ich nichts weiß.« Oder: »hier traue ich mir nicht, hier steht mir keine Tür offen.« Oder: »gesetzt sie stünde offen, wozu gleich eintreten?« Oder: »wozu nützen alle vorschnellen Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören. Müßt ihr denn durchaus etwas Krummes gleich geradebiegen? Durchaus jedes Loch mit irgendwelchem Werge ausstopfen? Hat das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? O ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin.« – Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, daß er einigen Trost nötig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt ...”)

Ich habe aber, was nicht weniger interessant ist, zeigen können, daß Nietzsche im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit seiner Selbststilisierung als "Dynamit" (in "Ecce homo") noch einem anderen geistigen Ereignis von welthistorischer Bedeutung nachsagte, es sei "Dynamit" gewesen: dem Christentum nämlich. Hier die Stelle in "Der Antichrist":
„Die »Gleichheit der Seelen vor Gott«, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist – ist christlicher Dynamit... »Humanitäre« Segnungen des Christentums!”

Die These, die ich zuletzt vertrat, besagt u.a. (Zitat aus dem Vortrag):

"Nietzsche, der sich gern als den großen Bringer von und Dränger auf Entscheidungen sah, als den Herold umstürzender Entschlüsse und als Künder bevorstehender Anfänge und Aufbrüche und geistiger Ausfahrten in größtem Stil – und dies verständlicherweise, denn tatsächlich ist das Signum der Moderne, die er heraufziehen sah, die Unentschiedenheit und ein nonchalantes So-Lala (von den beiden großen Aussteigerrevolten und Revanchen am modernen Geist, also vom universalen und vom nationalen Sozialismus einmal abgesehen), und tatsächlich geht die Moderne geistig zur Ruhe, wird sie umgänglich, nachsichtig und konstitutionell tolerant (immer unter Abzug der zwei großen Ausnahmen geredet, die zwischenzeitlich wie geistige Tollwutanfälle über die Menschheit hereingebrochen sind ...) –, Nietzsche, der im Grunde nichts sehnlicher suchte, als einen Ausweg aus diesem seichten und bequemen Nihilismus, der sich als die Verträglichkeit und Jämmerlichkeit des „letzten Menschen” auszubreiten begann, Nietzsche, noch einmal, der nichts so sehr ersehnte als einen Ausweg aus einem Zustand, da die „Gewässer der Religion” abgeflutet sein und nurmehr „Sümpfe und Weiher” zurückgelassen haben würden, und der diesen Ausweg wollte, sei er auch noch so gefährlich und abenteuerlich ––, eben dieser Nietzsche hat tragischerweise und eigentlich das gerade Gegenteil mit heraufgeführt, er hat beschleunigt, was er ausbremsen wollte, und Wasser hat er noch auf die Mühlen geleitet, die er am liebsten ausgetrocknet hätte. Heute jedenfalls steht er da als der Advokat der vielen Perspektiven, als der Pluralisierer, als der postmoderne Denker par excellence, als der Erste, der es verstand, in zahllosen Widersprüchen zu leben, ohne sie metaphysisch-systematisch auf Linie bringen zu müssen, und letztlich als der, der allem streng und unerbittlich Geltenden von einst, der Religion, dem Gott selber, der Moral und ihren Geboten, der Wahrheit und ihren Dependancen, den wissenschaftlichen Gewißheiten, den erhebenden Überzeugungen und höchsten Werten (wie es dann hieß) ihre zweifelsfreie Gültigkeit und Geltung absprach, besser: der erkannte, daß alles dies, was auf festen Fundamenten zu stehen sich rühmte, in Wirklichkeit auf dünnem Eise stand."
 
 




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