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Gerd B. Achenbach: "Die verschwundene Langeweile"
Freitag-Vortrag am 2. Nov. 2007 CD Nr. 199
Mancher wird sich fragen, ob die Titel-Ankündigung so ganz ernst gemeint sein konnte. Doch hätte ich das schon auf dem Programmzettel verraten sollen?
Soviel hier: Schon Seneca, später Pascal, mit besonderer, geradezu vergnügter Bissigkeit Schopenhauer, mit abgründiger Ironie der gute Kierkegaard – Philosophen, die über die gewöhnliche Weise, das Leben hinzubringen, nachgedacht haben, neigten dazu, die Langeweile für eine Art Fundamental-Befindlichkeit zu halten, die so manche Kuriosität des menschlich-allzumenschlichen Verhaltens allererst verständlich mache.
Ich habe an diesem Abend zum einen die (oftmals höchst amüsablen) „Diagnosen” der genannten Philosophen vorgestellt und dann zum andern die Frage nachgeschoben, ob womöglich unsere Einrichtungen zur Dauerablenkung (durch Arbeit beispielsweise) inzwischen so perfektioniert wurden, daß die Langeweile ausgetilgt scheint ...
Oder sollte Kierkegaard Recht bekommen? Er sah, daß die Maßnahmen zur Vertreibung der Langeweile schließlich das Elend nur noch vermehren, so daß am Ende selbst die Unterhaltungen langweilig werden.
Ich habe allerdings auch einige der "gängigen" Theorien zur Langeweile (etwa die von Lepenies und Mattenklott) vorgestellt.
Und ich habe eine Passage aus meinem ersten Buch bei Herder, "Innere Ruhe", vorgetragen, die in sehr freier Adaption eines Seneca-Textes die Komik der Langeweilen-Vertreibung anschaulich machte.
Hier ist die Passage zum Nachlesen:
Es ist überall dasselbe: Schau sie dir an, die unruhigen Wesen. Da sind die leichtsinnigen Vögel, die ewig aufgedrehten Flattergeister, die Vergnügungsmenschen, die nie zur Ruhe kommen. Da sind die, die eben noch mit allem fertig und aller Dinge überdrüssig waren: im nächsten Augenblick werden sie von irgendeinem neuen Einfall hingerissen, doch dann - kaum haben sie, was sie sich erträumten - trauern sie auch schon dem Alten nach, das sie um des Neuen willen fallen ließen. Da sind die Trägen und Gelangweilten: sie regen sich zwar nicht, doch ruhig sind sie auch nicht.
Da sind die, die sich durch die Tage quälen so wie andere, die nicht schlafen können, durch die Nacht: Sie werfen sich hin und her, probieren es mit dieser, dann mit jener Lage, und wenn sie endlich eingeschlafen sind, dann nicht, weil sie zur Ruhe fanden, sondern weil sie die Erschöpfung müde machte. Genauso geht es jenen: Sie versuchen es mit dieser, mal mit einer andern Art zu leben, und schließlich bleiben sie in irgendeiner hängen - einfach weil sie ihnen zur Gewohnheit wurde; das Alter tut das Übrige hinzu: man hat, was man hat, was soll man Neues anfangen? Und wieder andere gehen gleich von Anfang an im immer gleichen Trott, nicht weil sie überzeugt von ihrem Weg wären, sondern einfach, weil sie einmal darauf unterwegs sind. Die leiden nun wahrhaftig nicht daran, daß sie ihr Geist bald hier, bald dorthin reißt, doch deren Elend ist, daß sie, eingeschlossen in sich selber, stickig werden: ihnen fehlt es an Entschlußkraft und an der Entschiedenheit, zu wollen. Sie kommen nicht aus sich heraus, und sofern das Schicksal ihnen nicht verschafft, was ihnen, wie sie meinen, zusteht, verlegen sie sich vollends auf das Träumen. Dann schweben sie und warten, was da kommen soll, und sind doch voller Ungeduld. So geht es allen Unentschiedenen und Unentschlossenen: notwendig sind sie mit sich selber unzufrieden.
Und da sind die andern, die zwar wissen, was sie wollen, um jeden Preis sind sie entschlossen durchzusetzen, was sie sich vorgenommen haben, jedes Mittel, das Erfolg verspricht, ist ihnen recht, doch wenn die Sache schiefgeht, ärgert sie nicht etwa, daß sie Falsches wollten, sondern bloß, daß sie gescheitert sind. Es sind die Unbelehrbaren: Sie können es nicht fassen, daß ihnen so etwas passiert ist, und so verlieren sie den Schwung, etwas Neues anzupacken. Das steigert ihre Ruhelosigkeit noch einmal: auf der einen Seite können sie’s nicht lassen, auf der andern haben sie den Mut verloren, den sie nötig hätten. Ihre Energie versickert, am Ende steht ihr Leben still, ganz zuletzt erstarren sie. Ein bißchen wünschen, ein bißchen hoffen sie zwar noch, ein bißchen machen sie sich Illusionen - doch währenddessen gehen ihre Tage und ihr Leben hin, ohne daß sie wirklich leben.
Und doch kann es für sie noch schlimmer kommen. Ziehen sie sich nämlich, enttäuscht von den gescheiterten Geschäften, in ihr privates Reich zurück, sind sie der Folter untätiger Muße ausgesetzt, die sie zermürbt und schon gar nichts für sie ist. Sie nehmen sich ein Buch vor, lesen ein paar Zeilen, und schon schweifen ihnen die Gedanken ab. Sie starren auf die Worte und fragen sich, wozu sie ihre Zeit verplempern. Und für sie trifft’s wirklich zu: sie müssen nämlich etwas „machen”, unternehmen, irgendetwas treiben, sonst befällt sie das Gefühl, sie seien tot. Und warum? Weil sie an sich wie tot sind: mit sich selber wissen sie „nichts anzufangen”. Sie leben nur, solange sie was tun und sofern „sich etwas tut”. Wo nichts los ist, ist nichts. Entzieht man ihnen die Beschäftigung, nimmt man ihnen die Belastungen des Alltagslebens ab, bekommen sie es mit sich selbst zu tun - im selben Augenblick ist ihnen, als fielen sie ins schwarze Loch. In den vier Wänden halten sie’s nicht aus, sie meinen, die Decke falle ihnen auf den Kopf. Doch was tun? Sie sind sich selbst zur Last, und das einzige, was ihnen bleibt, ist die Zeit, die ihnen Muße schenken könnte, auf irgend eine Weise totzuschlagen. Wäre ihre unsinnige Lage nicht die günstige Gelegenheit, einmal über sich und ihr vertanes Leben nachzudenken? Aber nein: das machte alles nur noch schlimmer - meinen sie. Wie sollten sie sich selbst ins Auge sehen, ohne sich zu schämen? Sie ahnen immerhin, daß die Untersuchung, wie es um ihr Leben und sie selber steht, eine schreckliche Bilanz zutage förderte. Also weichen sie sich selber aus. Doch noch einmal: Was tun? Sie wissen’s nicht, doch nichts zu tun ist ihnen unerträglich. Das treibt sie in die Enge, und nun kehren sich die Lebenskräfte, die nichts finden, woran sie sich zu schaffen machen könnten, gegen sich: das Innere wird Kriegsschauplatz. Das Resultat: Man fühlt sich ausgebrannt, man ist erschöpft (die Kräfte haben sich im innerlichen Kampf mit sich tatsächlich aufgezehrt), man steht sich selbst im Weg, alles Selbstvertrauen ist dahin, und die Seele, die früher angesichts des kleinsten Hoffnungsschimmers übermütig wurde, ist jetzt, da ihr die Hoffnung ausging, matt und mutlos. Eine schöne Muße! Sie hassen sie, die schwachsinnigste Arbeit wäre ihnen lieber, als herumzuhängen - lieber irgend etwas tun, als nichts tun, denken sie, doch sie finden nichts und verfallen der Verbitterung: Die anderen, vermeintlich Glücklichen, die ihre Sache machen, verfolgen sie ab jetzt mit ihrem gelbem Neid - was macht, daß sie sich schließlich selbst verachten. Dann gibt’s kein Halten mehr: Alles wünschen sie zum Teufel, man klagt das Schicksal an, jammert über schlechte Zeiten, will sich verstecken, doch zurückgezogen in der Ecke brütet man nur nochmals schlimmere Gedanken aus: denn der Geist hält es nicht aus, unbewegt zu sein. Also stürzt er sich zuletzt in Phantasien, wie man sich selbst beiseite schaffen könnte.
Die Armen! Den Trubel der Geschäfte brauchen sie, um sich einzubilden, daß sie leben. Ihnen geht es wie den Kranken, die die Krätze haben und sich kratzen und behaupten, das tut gut. In Wahrheit macht es sie noch kränker. So die Wuselmenschen: Sie können nicht entbehren, was sie ruiniert, sie verlangen nach dem Gift, das sie kaputt macht. Was sie erleichtert, ist das, was sie beschwert, und beschwert es sie, suchen sie nach etwas anderem, was Linderung verspricht. Dem angeschlagenen Archill erging es so: Wie er sich auch legte, auf den Rücken, auf den Bauch, einerlei, in keiner Lage hielt er aus, er drehte sich zur Seite, dachte, das sei die Erlösung, kaum lag er so, war es diesselbe Hölle wie zuvor.
Serenus, lieber Freund, was meinst du? Ist es mit den Leuten, die ihren Trieb durch Reisen auszuleben suchen, nicht dasselbe? Man müßte einmal raus, sagen sie, also fährt man aufs Geratewohl ans Meer. An Ort und Stelle angekommen, rennen sie am Strand von hier nach da, von da zurück, denken, man müßte eigentlich per Schiff aufs freie Meer hinaus, also mieten sie ein Boot, doch an Bord befällt sie ein Gefühl, als habe man sie auf die Bank genagelt. Nein, das ist entschieden nichts für sie, dieses eintönige Einerlei der Wellen. Was gibt es denn auf See zu sehen? Ist es nicht entsetzlich öde, dazusitzen, nichts passiert, man starrt nur blödsinnig aufs Wasser? Also: war nichts. Bloß zurück ans Ufer! Doch auch da gilt: Wo sie sind, da sind sie nicht. Da hat einer die erlösende Idee: „Auf nach Kampanien!” (Die Gastwirtschaft Kampaniens stand seinerzeit in bestem Ruf ...) Gesagt, getan! Man kommt an, man schlemmert, trinkt, ist satt. Was jetzt? „Hinaus in die Natur! Die Bergwälder Bruttiens und Lukaniens durchwandern!” Eine glänzende Idee! Doch in der Einöde fehlt wiederum die Abwechslung. Was ist in den Bergen denn schon los? Das war es also auch nicht. „Nach Tarent sollte es gehen. Tarent hat einen prächtigen Hafen, und selbst im Winter ist das Klima mild. Da läßt es sich leben!” Doch auch da fehlt was. Man ist in der Provinz, es gibt nicht einmal ein Amphitheater! Wann haben wir das letzte Mal Gladiatoren kämpfen sehen? Wie lange ist es her, daß wir Blut geflossen ist? „Auf nach Rom!” Und so geht’s weiter: hierhin, dahin, dorthin, von einem Schauspiel auf zum nächsten, und Lukrez hat Recht:
So sucht jeder die Flucht vor sich selbst.
Vergebens allerdings. Die Flucht mißlingt. Zwar flieht man, doch man selbst flieht mit: Wir selbst sind unser lästigster Begleiter, den schütteln wir nicht ab. Ahnen wir nicht längst, daß uns in unserem Elend mit andern Orten nicht geholfen ist? Daß unser Elend - wir selber sind? Wir sind es, die nichts vertragen, die es bei der Arbeit sowenig wie in der Muße aushalten, mit uns nicht und woanders auch nicht. Wir rappeln uns auf, machen Pläne, unternehmen etwas, doch dann sind wir genau wieder da und dieselben wie zuvor. Endlich fällt uns nichts mehr ein ... - es gibt Leute, die treibt das in den Tod. Sie fragen sich: Das soll’s gewesen sein? Und immer dasselbe? [...]
_______________
Pascal hat es kurz gefaßt:
„So verrinnt das ganze Leben: man sucht die Ruhe, indem man einige Schwierigkeiten, die uns hindern, überwinden will; und hat man sie überwunden, dann wird die Ruhe unerträglich.”
Auszug aus Gerd B. Achenbach, Das kleine Buch der inneren Ruhe, 5. Aufl. 2016, S. 21-26.
Soviel hier: Schon Seneca, später Pascal, mit besonderer, geradezu vergnügter Bissigkeit Schopenhauer, mit abgründiger Ironie der gute Kierkegaard – Philosophen, die über die gewöhnliche Weise, das Leben hinzubringen, nachgedacht haben, neigten dazu, die Langeweile für eine Art Fundamental-Befindlichkeit zu halten, die so manche Kuriosität des menschlich-allzumenschlichen Verhaltens allererst verständlich mache.
Ich habe an diesem Abend zum einen die (oftmals höchst amüsablen) „Diagnosen” der genannten Philosophen vorgestellt und dann zum andern die Frage nachgeschoben, ob womöglich unsere Einrichtungen zur Dauerablenkung (durch Arbeit beispielsweise) inzwischen so perfektioniert wurden, daß die Langeweile ausgetilgt scheint ...
Oder sollte Kierkegaard Recht bekommen? Er sah, daß die Maßnahmen zur Vertreibung der Langeweile schließlich das Elend nur noch vermehren, so daß am Ende selbst die Unterhaltungen langweilig werden.
Ich habe allerdings auch einige der "gängigen" Theorien zur Langeweile (etwa die von Lepenies und Mattenklott) vorgestellt.
Und ich habe eine Passage aus meinem ersten Buch bei Herder, "Innere Ruhe", vorgetragen, die in sehr freier Adaption eines Seneca-Textes die Komik der Langeweilen-Vertreibung anschaulich machte.
Hier ist die Passage zum Nachlesen:
Es ist überall dasselbe: Schau sie dir an, die unruhigen Wesen. Da sind die leichtsinnigen Vögel, die ewig aufgedrehten Flattergeister, die Vergnügungsmenschen, die nie zur Ruhe kommen. Da sind die, die eben noch mit allem fertig und aller Dinge überdrüssig waren: im nächsten Augenblick werden sie von irgendeinem neuen Einfall hingerissen, doch dann - kaum haben sie, was sie sich erträumten - trauern sie auch schon dem Alten nach, das sie um des Neuen willen fallen ließen. Da sind die Trägen und Gelangweilten: sie regen sich zwar nicht, doch ruhig sind sie auch nicht.
Da sind die, die sich durch die Tage quälen so wie andere, die nicht schlafen können, durch die Nacht: Sie werfen sich hin und her, probieren es mit dieser, dann mit jener Lage, und wenn sie endlich eingeschlafen sind, dann nicht, weil sie zur Ruhe fanden, sondern weil sie die Erschöpfung müde machte. Genauso geht es jenen: Sie versuchen es mit dieser, mal mit einer andern Art zu leben, und schließlich bleiben sie in irgendeiner hängen - einfach weil sie ihnen zur Gewohnheit wurde; das Alter tut das Übrige hinzu: man hat, was man hat, was soll man Neues anfangen? Und wieder andere gehen gleich von Anfang an im immer gleichen Trott, nicht weil sie überzeugt von ihrem Weg wären, sondern einfach, weil sie einmal darauf unterwegs sind. Die leiden nun wahrhaftig nicht daran, daß sie ihr Geist bald hier, bald dorthin reißt, doch deren Elend ist, daß sie, eingeschlossen in sich selber, stickig werden: ihnen fehlt es an Entschlußkraft und an der Entschiedenheit, zu wollen. Sie kommen nicht aus sich heraus, und sofern das Schicksal ihnen nicht verschafft, was ihnen, wie sie meinen, zusteht, verlegen sie sich vollends auf das Träumen. Dann schweben sie und warten, was da kommen soll, und sind doch voller Ungeduld. So geht es allen Unentschiedenen und Unentschlossenen: notwendig sind sie mit sich selber unzufrieden.
Und da sind die andern, die zwar wissen, was sie wollen, um jeden Preis sind sie entschlossen durchzusetzen, was sie sich vorgenommen haben, jedes Mittel, das Erfolg verspricht, ist ihnen recht, doch wenn die Sache schiefgeht, ärgert sie nicht etwa, daß sie Falsches wollten, sondern bloß, daß sie gescheitert sind. Es sind die Unbelehrbaren: Sie können es nicht fassen, daß ihnen so etwas passiert ist, und so verlieren sie den Schwung, etwas Neues anzupacken. Das steigert ihre Ruhelosigkeit noch einmal: auf der einen Seite können sie’s nicht lassen, auf der andern haben sie den Mut verloren, den sie nötig hätten. Ihre Energie versickert, am Ende steht ihr Leben still, ganz zuletzt erstarren sie. Ein bißchen wünschen, ein bißchen hoffen sie zwar noch, ein bißchen machen sie sich Illusionen - doch währenddessen gehen ihre Tage und ihr Leben hin, ohne daß sie wirklich leben.
Und doch kann es für sie noch schlimmer kommen. Ziehen sie sich nämlich, enttäuscht von den gescheiterten Geschäften, in ihr privates Reich zurück, sind sie der Folter untätiger Muße ausgesetzt, die sie zermürbt und schon gar nichts für sie ist. Sie nehmen sich ein Buch vor, lesen ein paar Zeilen, und schon schweifen ihnen die Gedanken ab. Sie starren auf die Worte und fragen sich, wozu sie ihre Zeit verplempern. Und für sie trifft’s wirklich zu: sie müssen nämlich etwas „machen”, unternehmen, irgendetwas treiben, sonst befällt sie das Gefühl, sie seien tot. Und warum? Weil sie an sich wie tot sind: mit sich selber wissen sie „nichts anzufangen”. Sie leben nur, solange sie was tun und sofern „sich etwas tut”. Wo nichts los ist, ist nichts. Entzieht man ihnen die Beschäftigung, nimmt man ihnen die Belastungen des Alltagslebens ab, bekommen sie es mit sich selbst zu tun - im selben Augenblick ist ihnen, als fielen sie ins schwarze Loch. In den vier Wänden halten sie’s nicht aus, sie meinen, die Decke falle ihnen auf den Kopf. Doch was tun? Sie sind sich selbst zur Last, und das einzige, was ihnen bleibt, ist die Zeit, die ihnen Muße schenken könnte, auf irgend eine Weise totzuschlagen. Wäre ihre unsinnige Lage nicht die günstige Gelegenheit, einmal über sich und ihr vertanes Leben nachzudenken? Aber nein: das machte alles nur noch schlimmer - meinen sie. Wie sollten sie sich selbst ins Auge sehen, ohne sich zu schämen? Sie ahnen immerhin, daß die Untersuchung, wie es um ihr Leben und sie selber steht, eine schreckliche Bilanz zutage förderte. Also weichen sie sich selber aus. Doch noch einmal: Was tun? Sie wissen’s nicht, doch nichts zu tun ist ihnen unerträglich. Das treibt sie in die Enge, und nun kehren sich die Lebenskräfte, die nichts finden, woran sie sich zu schaffen machen könnten, gegen sich: das Innere wird Kriegsschauplatz. Das Resultat: Man fühlt sich ausgebrannt, man ist erschöpft (die Kräfte haben sich im innerlichen Kampf mit sich tatsächlich aufgezehrt), man steht sich selbst im Weg, alles Selbstvertrauen ist dahin, und die Seele, die früher angesichts des kleinsten Hoffnungsschimmers übermütig wurde, ist jetzt, da ihr die Hoffnung ausging, matt und mutlos. Eine schöne Muße! Sie hassen sie, die schwachsinnigste Arbeit wäre ihnen lieber, als herumzuhängen - lieber irgend etwas tun, als nichts tun, denken sie, doch sie finden nichts und verfallen der Verbitterung: Die anderen, vermeintlich Glücklichen, die ihre Sache machen, verfolgen sie ab jetzt mit ihrem gelbem Neid - was macht, daß sie sich schließlich selbst verachten. Dann gibt’s kein Halten mehr: Alles wünschen sie zum Teufel, man klagt das Schicksal an, jammert über schlechte Zeiten, will sich verstecken, doch zurückgezogen in der Ecke brütet man nur nochmals schlimmere Gedanken aus: denn der Geist hält es nicht aus, unbewegt zu sein. Also stürzt er sich zuletzt in Phantasien, wie man sich selbst beiseite schaffen könnte.
Die Armen! Den Trubel der Geschäfte brauchen sie, um sich einzubilden, daß sie leben. Ihnen geht es wie den Kranken, die die Krätze haben und sich kratzen und behaupten, das tut gut. In Wahrheit macht es sie noch kränker. So die Wuselmenschen: Sie können nicht entbehren, was sie ruiniert, sie verlangen nach dem Gift, das sie kaputt macht. Was sie erleichtert, ist das, was sie beschwert, und beschwert es sie, suchen sie nach etwas anderem, was Linderung verspricht. Dem angeschlagenen Archill erging es so: Wie er sich auch legte, auf den Rücken, auf den Bauch, einerlei, in keiner Lage hielt er aus, er drehte sich zur Seite, dachte, das sei die Erlösung, kaum lag er so, war es diesselbe Hölle wie zuvor.
Serenus, lieber Freund, was meinst du? Ist es mit den Leuten, die ihren Trieb durch Reisen auszuleben suchen, nicht dasselbe? Man müßte einmal raus, sagen sie, also fährt man aufs Geratewohl ans Meer. An Ort und Stelle angekommen, rennen sie am Strand von hier nach da, von da zurück, denken, man müßte eigentlich per Schiff aufs freie Meer hinaus, also mieten sie ein Boot, doch an Bord befällt sie ein Gefühl, als habe man sie auf die Bank genagelt. Nein, das ist entschieden nichts für sie, dieses eintönige Einerlei der Wellen. Was gibt es denn auf See zu sehen? Ist es nicht entsetzlich öde, dazusitzen, nichts passiert, man starrt nur blödsinnig aufs Wasser? Also: war nichts. Bloß zurück ans Ufer! Doch auch da gilt: Wo sie sind, da sind sie nicht. Da hat einer die erlösende Idee: „Auf nach Kampanien!” (Die Gastwirtschaft Kampaniens stand seinerzeit in bestem Ruf ...) Gesagt, getan! Man kommt an, man schlemmert, trinkt, ist satt. Was jetzt? „Hinaus in die Natur! Die Bergwälder Bruttiens und Lukaniens durchwandern!” Eine glänzende Idee! Doch in der Einöde fehlt wiederum die Abwechslung. Was ist in den Bergen denn schon los? Das war es also auch nicht. „Nach Tarent sollte es gehen. Tarent hat einen prächtigen Hafen, und selbst im Winter ist das Klima mild. Da läßt es sich leben!” Doch auch da fehlt was. Man ist in der Provinz, es gibt nicht einmal ein Amphitheater! Wann haben wir das letzte Mal Gladiatoren kämpfen sehen? Wie lange ist es her, daß wir Blut geflossen ist? „Auf nach Rom!” Und so geht’s weiter: hierhin, dahin, dorthin, von einem Schauspiel auf zum nächsten, und Lukrez hat Recht:
So sucht jeder die Flucht vor sich selbst.
Vergebens allerdings. Die Flucht mißlingt. Zwar flieht man, doch man selbst flieht mit: Wir selbst sind unser lästigster Begleiter, den schütteln wir nicht ab. Ahnen wir nicht längst, daß uns in unserem Elend mit andern Orten nicht geholfen ist? Daß unser Elend - wir selber sind? Wir sind es, die nichts vertragen, die es bei der Arbeit sowenig wie in der Muße aushalten, mit uns nicht und woanders auch nicht. Wir rappeln uns auf, machen Pläne, unternehmen etwas, doch dann sind wir genau wieder da und dieselben wie zuvor. Endlich fällt uns nichts mehr ein ... - es gibt Leute, die treibt das in den Tod. Sie fragen sich: Das soll’s gewesen sein? Und immer dasselbe? [...]
_______________
Pascal hat es kurz gefaßt:
„So verrinnt das ganze Leben: man sucht die Ruhe, indem man einige Schwierigkeiten, die uns hindern, überwinden will; und hat man sie überwunden, dann wird die Ruhe unerträglich.”
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1981 in Gießen bei Odo Marquard zum Thema „›Selbstverwirklichung‹ oder ›Die Lust und die Notwendigkeit‹. Amplifikation eines Hegelschen Kapitels aus der ›Phänomenologie des Geistes‹” abgelegt, ist ab jetzt hier im pdf-Format nachzulesen.
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