Das neu aufgelegte Vorhaben:
die „Meisterklasse Philosophische Praxis”
Hier schon einmal die Daten für die vorgesehenen zwei Klassen:
Die 1. Meisterklasse:
1. Block: 24. - 31. Mai 2025
2. Block: 06. - 13. September 2025
3. Block: 18. - 25. April 2026
4. Block: 29. Aug. - 04. Sept. 2026
(Dieser Kurs hatte ursprünglich Termine berücksichtigt, die jeweils in die Schulferien von NRW fallen. Doch zeigt sich inzwischen, daß daran kein nachdrückliches Interesse besteht, so daß wir nun auch diese erste Gruppe neu datiert haben.)
Die 2. Meisterklasse:
1. Block: 10. - 17. Mai 2025
2. Block: 20. - 27. Sept. 2025
3. Block: 02. - 09. Mai 2026
4. Block: 12. - 19. Sept. 2026
Der Ort: Das „Haus der Philosophischen Praxis”, Villa Hartungen, Sankt Nikolaus im Ultental/Südtirol, Hartungen 64,.
(Bilder dazu siehe hier [1])
***
Inzwischen ist die Planung für das erste Halbjahr und das erste Wochenseminar im Mai 2025 fertig und als Brief an die Teilnehmer versandt worden.
Hier Auszüge daraus:
10. Dezember 2024
An den geschätzten Kreis der Teilnehmer an der Meisterklasse Philosophische Praxis.
Mit Mut zur Übersichtlichkeit ließe sich wohl die Geschichte des philosophischen Denkens in drei Traditionszüge unterteilen: Da sind die, die der Spur Platons folgen ‒ dafür wird gern A. N. Whiteheads Ansicht bemüht, die philosophische Tradition Europas bestehe aus nichts anderem als „aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon” ‒, da sind zum andern die, die von Aristoteles ihren Ausgang nehmen ‒ die Geschichte der Metaphysik hebt an, die letzten Endes in den strengen Wissenschaften kulminiert ‒, und da sind schließlich jene ‒ das ist die kleinste Gruppe ‒, die weder Platoniker sind noch Aristoteliker, sondern für die der Erste unter ihnen für immer jener sonderbare Athener ist, Sokrates, ein Ausnahmemensch schlechthin, von dem Hegel einmal sehr richtig entschied, er habe gar keine Philosophie „gehabt”, sei aber gleichwohl als „welthistorische Person” der „Hauptwendepunkt des Geistes”.
Das war ein langer Satz. Und wozu? Nur um anzudeuten: Wir werden im Folgenden (gemeint ist die Meisterklasse) nicht etwa noch einmal und schon wieder die überreiche Geschichte des philosophischen Denkens „nachdenken” ‒ wie dies die Lehrgänge versuchten und mit noch mehr Namen auf der Arbeitsliste der Studienkurs ‒, sondern wir werden uns entschlossen in die Nachfolge des Sokrates stellen und das Selbstverständnis der Philosophischen Praxis im (auch distanzierenden!) Gespräch mit diesem Ersten unter den praktischen ‒ besser: praktizierenden ‒ Philosophen entwickeln.
Anders formuliert: Im Rahmen unserer ersten Woche im Mai wird es nicht „um Sokrates gehen”, wie die gewöhnliche Redensart tönt, sondern um „Sokrates und die Folgen” ‒, darum und um einige hochbeachtliche Begleitumstände seines Athener Auftritts ‒ was den „Hauptwendepunkt des Geistes” überhaupt erst verstehbar macht. Gemeint ist der Verlust des tragischen Bewußtseins, der tragischen Weltauslegung, zu entziffern an der Entwicklung der Tragödie von Aischylos bis Euripides. Was hingegen die „Folgen des Sokrates” angeht, wird es um fortwirkende und darum fortdauernde Fehlverständnisse gehen, die bis heute zur Philosophie insgesamt im Umlauf sind und den Zugang zur Philosophischen Praxis erschweren (teils sogar versperren), leider aber durchaus auch Spätfolgen einer verbreiteten Sokrates-Auslegung sind. Beispiel: „Philosophische Praxis? Aah, da geht es dann wohl um saubere Argumente und so!”
Nein, sondern unsere Bemühungen um Sokrates werden einen gänzlich anderen Horizont eröffnend der Einschätzung Karl Jaspers’ zur Seite treten, der mit sicherem Urteil sein groß angelegtes, fast 1000 Seiten umfassendes Werk „Die großen Philosophen” mit Sokrates einleitete, und zwar mit ihm ‒ dem Sohn eines Steinmetz und einer Hebamme ‒ als dem ersten der vier „maßgebenden Menschen”: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Da wird mancher fragen wollen: Sind Buddha und Jesus, der Zimmermannssohn, denn „Philosophen”? Wohl nicht. Doch sehen wir uns Jaspers Rechtfertigung seiner entschiedenen Wahl an: Jene Vier seien Menschen gewesen,
die durch ihr Dasein und Wesen das Menschsein wie keine anderen Menschen geschichtlich bestimmt haben. Sie sind bezeugt durch eine durch Jahrtausende bis heute fortdauernde Wirkung: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Man würde kaum einen fünften von gleicher historischer Mächtigkeit nennen können, keinen, der in gleicher Höhe noch heute zu uns spräche. Man kann zögern, sie überhaupt Philosophen zu nennen. Aber sie haben auch für alle Philosophie eine außerordentliche Bedeutung gehabt. Sie haben nichts geschrieben (außer Konfuzius). Aber sie sind Grundlage gewaltiger philosophischer Denkbewegungen geworden. Wir nennen sie die vier maßgebenden Menschen. Sie stehen vor und außerhalb aller übrigen, die Philosophen zu nennen der allgemeinen Meinung entspricht.
Zuvor noch hatte Jaspers als das Kennzeichen ihrer „Größe” benannt, daß sie „in der Zeit über der Zeit stehen” ‒ was übrigens ihre bleibende „Gegenwärtigkeit” ausmache ‒ und daß sie „einen Sprung in der Geschichte” verkörpern, was sich auch als „das Wunder des Neuen” bezeichnen lasse, eines Neuen, „das auch nachträglich nicht aus dem Vorhergehenden und aus den Bedingungen des Daseins, in dem es entsprang, abgeleitet werden kann.” (Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. I, München 41988, S. 46 + 39)
In eben diesem Sinn werden wir uns bemühen, an jenen wohl immer letztlich rätselhaft bleibenden Vorausgänger anzuschließen als an unser eigentliches Ur- und Vorbild.
Und wir werden uns außerdem jene anschauen, die sich ihrerseits herausgefordert fühlten, sich angesichts des Sokrates ihres eigenen Standorts sicher zu werden, was vielleicht weniger für Montaigne zutrifft ‒ der sich in schönster Unbekümmertheit und ohne langes Hin- und Herbedenken zu den Jüngern des Athener Alten rechnete ‒, wohl jedoch für Kierkegaard, der wie wenig später Nietzsche seinen eigenen Denkweg antritt, indem er sich zu Sokrates in Stellung bringt: Kierkegaard mit seiner Magisterarbeit „Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates”, Nietzsche mit seinem genialen, oft allerdings vertrackt verschlüsselten Frühwerk über „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik” ‒ das er selbst später (1886) „Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus” betitelte. MeinVorschlag für diesmal: Wenn wir schon ‒ unsere schönste, alte Gewohnheit ‒ noch einmal gemeinsam unsere Köpfe über einige aufgeschlagene Buchseiten beugen wollten, dann über jene spätere, der 2. Auflage mitgegebene Vorrede zum frühen Tragödienbuch, „Versuch einer Selbstkritik” überschrieben, in und mit dem Nietzsche Auswege aus einem Jahrtausende währenden Irrtum sucht, der seine letzten Blüten auch gegenwärtig noch als „moderne Ideen” austreibt und schleichend das Leben verleidet. Dann werden wir sehen: Die Philosophische Praxis hat sich nicht nur im Verhältnis zu Sokrates ihrer selbst bewußt zu werden, sondern wir werden zugleich jene beispiellose Herausforderung annehmen müssen, die Nietzsche für uns darstellt, sofern wir ihn nicht als überdrehten Literaten abtun, um Ruhe zu haben.
Meine Empfehlung also: Lest jene „Selbstkritik” ‒ wenn Ihr derzeit die Muße nicht aufbringt, Euch gleich noch einmal in jenes gigantische, oftmals labyrinthische, manchmal auf Abwege geratende Buch des jungen Nietzsche selbst zu vertiefen ‒, und dann gönnt Euch nach Möglichkeit auch noch die Lektüre von Sloterdijks „Nachgang” zu Nietzsches damaligen Einstieg ins weitsichtige Philosophieren: „Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus”. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986 (edition suhrkamp 1353).
Das ‒ und ein nochmaliger Blick in Kierkegaards frühe Sokrates-Adaption ‒ wird uns für die Richtigkeit der Parole meines Lehrers Odo Marquard einnehmen: „Sage mir, wie du es mit Sokrates hältst, und ich sage dir, was du für eine Philosophie hast.” (Der Einzelne, Vorlesungen zur Existenzphilosophie, S. 149. )
Doch noch einmal zurück zu Karl Jaspers und seiner Entfaltung der Geschichte des philosophischen Denkens mit dem Präludium, das die vier „Maßgebenden Menschen” vorstellt. Da klang bereits an, was die Nachdenklichen ohnehin nachhaltig beschäftigt hat: das Verhältnis des späteren Nazareners zu jenem Athener. Dazu bin ich auf eine höchst bemerkenswerte, obendrein erschütternd gelehrte Abhandlung gestoßen, deren Lektüre ich gleichfalls empfehle: Es ist die Antrittsrede, die Adolf Harnack ‒ damals noch ohne „von” ‒ im Jahre 1900 beim Antritt des Rektorats der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität hielt; Titel: „Sokrates und die alte Kirche”. (Geht allen als beiliegendes pdf-Dokument zu.)
Aber nochmals: Die Meisterklasse wird kein Lese-Zirkel und keine gelehrte Debatten-Runde sein, sondern der (bislang einmalige) Ort, an dem wir uns in ein noch „ungeheures”, ungeübtes, allemal unvertrautes ‒ bei Nietzsche hieße es: „unbewiesenes” ... ‒ Denken und Umgehen miteinander finden wollen, das vor allem zunächst einen Namen hat, also unter dem Begriff „Philosophische Praxis” firmiert, wobei die traurige Tatsache ist, daß unter diesem Label an den Rändern leider viel Unberufenes und Unberechtigtes, ja Peinliches mit segelt ... Um aber hier ‒ mit biblischem Bild: auf dem „schmalen Pfad” ‒ Fuß zu fassen und sicher gehen zu lernen, haben wir anderes nötig als „Kenntnisse”, was andere, sogenannte Philosophen, einst gedacht und von sich gegeben haben. Dazu gehört vielmehr, was Laura gern die erworbenen Fähigkeit nennt, „in Geschichten zu denken”. Womit sogleich das andere und zweite Thema der bevorstehenden ersten Woche der Meisterklasse in unserem neuen Zuhause, im „Haus der Philosophischen Praxis”, angesprochen wäre: Wir wollen nämlich ‒ einem Wink Nietzsches folgend, den Sloterdijk dann auf seine Weise aufnahm ‒ ebenso jenen anderen Vorgang bedenken, der sich in nachgerade unheimlicher Gleichzeitigkeit zum Auftritt des Sokrates ereignete, und das ist der Untergang der Tragödie, der sich als „Weiterentwicklung” des tragischen Dramas von Aischylos über Sophokles zu Euripides durchsetzte. Denn da trat, kurz gesagt, an die Stelle des Verhängnisses, das die Präsenz der Götter bezeugte, bei Euripides schließlich die (nur noch) innere Bewegung, die sich der handelnden Personen bemächtigt. Das bedeutet: Psychologie verdrängt die Götter. Wen wundert’s, wenn nach gängigem Urteil Euripides heute als der schlechthin „moderne Autor” gefeiert wird. Zum Beleg: Die von Raoul Schrott vorgelegten Nacherzählungen der Tragödien des Euripides [Die großen Stücke: Alkestis, Bakchen, Elektra, Orestes – Übertragen von Raoul Schrott, dtv 2021] werden vom Verlag mit feinem Gespür fürs zeitbedingt Gefällige wie folgt annonciert:
Euripides gilt als erster Psychologe, der die Ambivalenzen menschlichen Verhaltens meisterhaft darzustellen versteht, als brillanter Kritiker jeglicher Form von Macht, als antiker Ikonoklast und Skeptiker naiver Gottgläubigkeit. Deshalb sind seine Dramen auch von verblüffend zeitloser Aktualität, wurden sie immer wieder bearbeitet, kommentiert und aufgeführt. ›Alkestis‹ kann als erste feministische Tragödie bezeichnet werden. Sein berühmtestes Stück – ›Die Bakchen‹ – analysiert das Sektenwesen auf ebenso klare wie erschütternde Weise. ›Orestes‹ war einst das meistgespielte Drama im antiken Griechenland; zusammen mit ›Elektra‹ wird es hier zudem erstmals als Euripides‘ eigene ›Orestie‹ präsentiert, eines der treffendsten Schauspiele, das je über Populismus und Terrorismus geschrieben wurde.
Was heißt das, bitte schön, für uns? Könnte es wohl sein, daß wir uns noch einmal der Frage aussetzen müssen, ob jener „Fortschritt” ein „Fortschritt” war, oder hat er uns womöglich auf langen Kultur(um)wegen schließlich in Sackgassen gebracht, in denen wir derzeit festsitzen? Haben uns Sokrates ‒ der „erste theoretische Mensch” (Nietzsche) ‒ und Euripides ‒ der Prototyp des psychologischen Geschichtenauslegers und Schicksalsdeuters ‒ vielleicht das Problem eingebracht, an dem wir nach wie vor laborieren und aus dem so schwer auszuscheren ist? Nur Mut: Die auf den Weg gebrachte Philosophische Praxis ist die tätig gewordene Ambition, sich von jeglichem „Hier-geht’s-nicht-weiter” nicht schrecken zu lassen und so das „post-therapeutische Zeitalter” vorzubereiten. (Vgl. dazu die „11 Thesen zur Philosophischen Praxis”, die ich auf dem diesjährigen „Weltkongreß der Philosophie” in Rom vorstellte, nachzulesen auf unserer Internetseite.)
Also: Was halten wir von jener „Hauptlinie” des europäischen Geistes, der mit dem offiziösen Sokrates-Verständnis die Zuversicht verknüpfte, in den wesentlichen Lebensbelangen sei einzig argumentativ bzw. diskursiv weiterzukommen, und was von der mittlerweile fast schon (oder: immer noch) volkstümlichen Idee, die menschlichen Angelegenheiten und Verwicklungen seien „psychologisch” zu verstehen und schließlich auch nur psycho‒logisch auszubessern und zu korrigieren, womöglich gar zu „heilen”? Und solche „Heilung” wäre nichts als die „Gesundheit” und der Erwerb sozialverträglichen Wohlbefindens? Und da schlägt nicht etwa der „Verlust des tragischen Bewußtseins” zu Buche? Da bliebe keine Leerstelle zurück, die zu therapeutischer Hyper-Aktivität die Motive lieferte und Heilungsaussichten illusioniert, wo in Wahrheit nur trauriges „Unheil” verwaltet wird? Einmal schroff gefragt: Könnte es wohl sein, Nietzsche hatte Recht und mit dem psychologischen Blick setzte die „Verkleinerung des Menschen” ein? Der Mensch wird seiner selber überdrüssig ‒ was dann, auf der empirischen Seite, als „Depression”, „Verbitterung”, „Antriebshemmung” ‒ oder, um Fraktur zu reden: als allgemeine Lustlosigkeit und Mattigkeit notiert wird, für manchen als das schale Empfingen, „ausgebrannt” zu sein. Als Innenschau: Müll, im Rundum-Blick: Rien ne va plus ...
Von alledem ‒ und im ständiger Rücksicht auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse ‒ werden wir uns ein Bild (und weitergehende Einsichten dazu) verschaffen, indem wir eine der großen Tragödien des Sophokles ‒ ich schlage vor: die Antigone ‒ lesen, und dann als Reflex der Moderne darauf die Fassung der Antigone des Anouilh. (Den Anouilh-Text, an den nur noch schwer zu kommen ist, werden wir allen, die das Stück nicht zur Hand haben, zur Verfügung stellen.)
Und dann wollen wir einen anderen, bisher weitgehend übersehenen Zugang zu Sokrates aufsuchen, jenen, den ich in meinem „Mexiko-Vortrag” zur Eröffnung des 15. internationalen Kongresses zur Philosophischen Praxis skizziert hatte. Einige „Kollegen” empfanden erwartungsgemäß meinen Vorschlag, Sokrates als den aufzufassen (und zu würdigen und zu ehren!), dem gerade keine Vernunft-Resultate oder Verstandes-Schlüsse Halt und Sicherheit boten, sondern einige Unerhörtheiten, die er mit schöner Freimütigkeit als Glaubenssätze vortrug und als unerschütterliche Überzeugungen bekannte. Dies als weitere Leseempfehlung. („Worauf kommt es an? Was ist wahrhaft wichtig? Was ist letztlich entscheidend? Leitende Gesichtspunkte in der Philosophischen Praxis” in „Philosophie der Philosophischen Praxis”) Als Randnotiz: Da geht ein Gedanke auf, der später, allerdings am andern Ufer der Ägäis in Fleisch und Blut „verkörpert” auftrat.
Mit jenem andern verträgt sich ebenso, was ich als „den Satz des Sokrates” auszeichnen möchte, ein Diktum, das ich stark machen möchte als Grundsatz unserer Philosophischen Praxis, mithin als unverzichtbare Grundlage zur Einschätzung tragisch getönter Geschichten, wie sie dem philosophischen Praktiker begegnen können:
„Schlimmer ist es, Unrecht zu tun als Unrecht zu erleiden.”
Dazu hier kurze Ausschnitte aus dem Dialog „Gorgias”, in dem sich Sokrates u. a. mit Polos unterhält:
Sokrates: Das größte aller Übel ist, Unrecht zu tun.
Polos: Wirklich das größte? Ist nicht das Unrechtleiden ein größeres?
Sokrates: Durchaus nicht.
Polos: Du also möchtest lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollen?
Sokrates: Wollen möchte ich keines von beiden; wenn ich aber unweigerlich wählen müßte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden, so würde ich mich lieber für das letztere entscheiden als für das erstere. (24/469)
Wenig später bekräftigt Sokrates noch einmal:
„Ich sage, das Unrechttun ist schlimmer als das Unrechtleiden.” (28/478)Und zuletzt, im Schlußkapitel (83): Von allen Behauptungen, die aufgestellt und von ihm geprüft worden seien, sagt Sokrates zuletzt, „blieb allein ein Satz unverrückt stehen, daß man sich mehr hüten müsse vor dem Unrechttun als vor dem Unrechtleiden und daß ein Mann vor allem anderen danach trachten müsse, nicht gut zu scheinen, sondern gut zu sein.” (527)
Wenige Zeilen später folgert Sokrates daraus eine Verhaltensregel, die bei manchen Assoziationen auslösen mag ...:
„Wenn dich jemand verachtet als Toren [weil du nach diesem Grundsatz lebst] und dich beschimpft, so laß ihm ruhig seinen Willen und laß dir, beim Zeus, sogar getrost den entehrenden Backenstreich geben; denn damit wird dir nichts Schlimmes widerfahren, wenn du nur in Wahrheit ein braver Mann bist und die Tugend übst.” (83/527)
Soviel nochmals als Gelegenheit, beiläufig auf die bereits erwähnte Rektoratsrede von Adolf Harnack zu verweisen ...
Schließlich: Wir werden die Woche nutzen, nicht nur im angedeuteten Rahmen einen Anschluß an Sokrates zu finden, sondern wir werden Ausschnitte aus Beratungsverläufen kennenlernen, die uns die Nötigung zu einer tragischen Welt- und Lebensauffassung begreiflich machen, also einen Geist noch einmal freizulegen versuchen, der von Sokrates ‒ oder eigentlich von seinen philosophischen Nachfahren ‒ gerade verschüttet wurde. ...
Wer sich gern als Lesender auf unser Wochenende vorbereitet, dem sei die Lektüre der platonischen Dialoge „Apologie”, „Symposion”, „Phaidon” und „Phaidros” empfohlen. Die Lektüre des Symposions kann durch die vergegenwärtigende Lesart ergänzt werden, die ich mit „Liebe, der göttliche Wahn” gewagt habe.
Und wer darüber hinaus Lesezeit erübrigen kann und darum mit Lektüre noch nicht hinreichend versorgt ist, dem empfehle ich außerdem den „Klassiker” „Der Tod des Sokrates: Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon” von Romano Guardini und Gernot Böhmes Noch-nicht-Klassiker, dafür aber gut lesbares Buch „Der Typ Sokrates” (stw).
Darüber hinaus lege ich in Form einer ersten Material-Zusendung eine kleine Textsammlung in die Anlage, die so schon einmal dem Lehrgang zuging. Hier zunächst zu Sokrates und den Folgen. In weiteren Zusendungen werden dann Sammlungen zu einigen der Sokrates-Nachfolger, etwa zu den Stoikern, zu Seneca, Mark Aurel, Epiktet, zur pyrrhonischen Skepsis, Plutarch, zu Montaigne, den „Französischen Moralisten” und anderen folgen. [Keinen Schreck bekommen: Die weiteren „Materialien” sind vor allem Lieferungen, die weitere Hintergründe für unsere gemeinsame Woche im Mai bereitstellen, „Blickerweiterungen” gewissermaßen, der philosophischen Umsicht dienlich, wie sie das Gespräch in der Philosophischen Praxis erfordert.]
Doch nun wünschen wir ‒ Laura und ich ‒ Euch allen erfreuliche Weihnachts-Festtage und einen heiteren Übergang ins nächste Jahr, das ja für uns zugleich ein Anfang und ein Auftakt werden wird.
***
Hier die Erläuterung dieses Vorhabens durch Laura Achenbach:
Zu Gerd B. Achenbachs „Meisterklasse Philosophische Praxis”
Nach nunmehr sieben „Lehrgängen zur Philosophischen Praxis” wird der Gründer der Philosophischen Praxis, Dr. Gerd B. Achenbach, noch einmal ausgewählten Interessenten in berufenem Kreise die Möglichkeit bieten, diese durch ihn eingeläutete paradigmatische Wende der Philosophie im Rahmen ausgedehnter persönlicher Gespräche und gemeinsamer Arbeit kennenzulernen ‒ ggf. auch zur Vorbereitung auf die eigene Tätigkeit im Sinne der Philosophischen Praxis auf höchst-denkbarem Niveau.
In Hinblick auf die vorangegangenen Lehrgänge und auf die zudringlicher werdende Vergänglichkeit wurden sowohl der zeitliche Umfang und Rahmen, als auch die inhaltliche Struktur einer grundlegenden Revision unterzogen. Die inhaltliche Aneignung des anzutretenden philosophischen Erbes wird durch umfangreiche, sorgfältig ausgewählte Textkompendien ‒ die den Teilnehmern gestreckt über sechs Monate in Einzellieferungen zugehen ‒ zunächst im Selbststudium erfolgen. Die eingehende Beschäftigung mit diesen vielfältigen, bereits auf die spätere Praxis bezogenen Materialien ist sodann die Voraussetzung für das sich anschließende achttägige Intensiv-Seminar im dann bezogenen Sitz der Philosophischen Praxis im Südtiroler Ultental.
Vor den jeweiligen Arbeitstreffen stehen zur Klärung von Verständnisfragen im brieflichen Verkehr sowohl Gerd Achenbach selbst als auch ich als Co-Kursleiterin ‒ in angemessenem Ausmaß ‒ begleitend zur Verfügung.
Während der insgesamt vier Intensivseminare mit obligater Anwesenheit aller Teilnehmer werden im gemeinsamen Gespräch die zentralen Herausforderungen, denen der Philosoph in der Praxis begegnet, vorgestellt und gedanklich praxisbezogen entwickelt. Dabei gilt: Nicht allein was zu denken ist, sondern ebenso das Wie des Denkens und Sich-Verständigens im Beratungskontext erfährt durch die Philosophische Praxis eine neue Bestimmung und Rechtfertigung. Der Literatur wie der Religion geschwisterlich verbunden, eröffnet sich so ein eigenes Verstehen des menschlichen Empfindens, Denkens und Handelns im Anschluß an maßgebende philosophische Traditionen: Von Sokrates über die besonnene Fortführung der Stoa und die Lebensmeisterschaft des Montaigne, bis hin zu Kants „Weltweisheit” und Hegels Dialektik. (erstes Halbjahr)
Im zweiten Halbjahr mit dem dazugehörigen ganzwöchigen Seminar wird mit Schopenhauers Weisheit, Kierkegaards existentiellem Ernst, mit Nietzsche ‒ zuerst als „Psychologe” und gleich im Anschluß daran als dem ersten Überwinder der Psychologie ‒ und schließlich mit dem späten Wittgenstein auf eine Weise bekanntgemacht, die sie alle als Wegbereiter der nunmehr praktisch beanspruchten Philosophie begreifen läßt.
Die dabei beachtete Vorgehensweise ist denkbar anders, als sie von den akademischen Seminarrunden und aus den universitären Hörsälen sonst vertraut ist: Jeder Denker dieser Reihe wird durch gedanklich synthetisierende Verknüpfungen ‒ sei es mit einem literarischen Werk, Mythos, Drama oder Film ‒ aus seiner fachphilosophischen Isolation befreit und durch das Einlassen auf Geschichten, Widerfahrnisse, Konflikte und sonstige Lebensexempel verlebendigt und konkretisiert. Dabei wird es jeweils die Aufgabe eines Teilnehmers dieses Meisterkurses sein, eine solche Brücke des philosophischen Gedankens über Sprachgrenzen hinweg zur Lebenswirklichkeit zu schlagen.
Daß sich auf diesem Wege ungeahnte und allemal ungewohnte Einsichten eröffnen, mag an einem Beispiel demonstriert sein: Der Beschäftigung mit dem Protophilosophen Sokrates wird die zudringliche Interpretation der Kleistschen (beispielhaft verfilmten) Novelle „Die Marquise von O.” zur Seite gestellt werden.
Im Anschluß daran wird das erste Halbjahr im zweiten Jahr mit den „Handhaben”, das heißt mit Haltungsempfehlungen, Verfahrensvorschlägen, gewissermaßen selbst mit „Dramaturgien” der Philosophischen Praxis bekanntmachen, also mit der Praxis der Praxis, zumal mit den Subtilitäten und Ansprüchen, wie sie sich mit der „Philosophie des Gesprächs” verbinden, dieser Maßstäbe setzenden Neuerung im Reich des Denkens, die der Philosophischen Praxis seither das ganz und gar eigenständige Profil verleiht und das philosophische Denken, Wahrnehmen und Entwickeln des Ungedachten überhaupt erst weltgängig und berufstauglich macht.
Die zweite Jahreshälfte mit dem dazugehörigen einwöchigen Präsenz-Seminar im zweiten Jahr aber wird dann mit Themen und Herausforderungen vertraut machen, die nach Maßgabe der mehr als 45-jährigen Erfahrung Dr. Achenbachs uns in unserer Beratungspraxis begegnen und den individuell beratenden Philosophen in jeweilig einmaliger Weise anfordern.
Begleitet wird die gesamte Arbeit mit Beispielen aus der Beratungspraxis und entsprechenden Übungen, die das philosophische Verstehen und Weiterhelfen „am Fall” unter teilnehmender Beobachtung proben.
Jeweils vor Beginn der Wochenveranstaltungen oder im Anschluß daran ‒ ggf. auch nach eigener Terminvereinbarung ‒ sind Gespräche im Rahmen der „Philosophischen Lehrpraxis” bei Dr. Achenbach vorgesehen, die auf dem Wege individueller Selbsterfahrung mit den Möglichkeiten philosophisch durchdachter Biographik, gedanklicher Welterschließung und geistig erworbener Widerstandskraft gegenüber zeitüblichen Denk-und Gesinnungszwängen mit der Philosophischen Praxis auf dem Wege eigenen Erlebens vertraut machen.
***
Über die Kosten der Gesamtveranstaltung ‒ sowie im besonderen oder Ausnahme-Fall einzelner Halbjahre ‒ siehe alles Nähere auf der gesonderten Seite hier [2].
[2] https://www.g-pp.de/detail/meisterklasse_org.asp